NICOLE MATTERN, VORSITZENDE DER VEREINIGUNG KINDER VOM BULLENHUSER DAMM E.V.
In den Jahren vor Corona begrüßte die Gamescom mehr als 350.000 Besucher und Besucherinnen in den Kölner Messehallen, ein großer Teil davon junge Menschen. Gemessen an Ausstellungsfläche und Besucherzahl gilt die Gamescom als weltweit größte Messe für Computer- und Videospiele. Viele der dort vorgestellten Spiele sind in historische Settings eingebettet – als Rahmen für das Spielgeschehen oder um eine historische Spielhandlung zu nutzen. Besonders der Zweite Weltkrieg wird häufig als Setting für digitale Spiele gewählt. In diesen Spielen geht es aber in der Regel nicht um die Vermittlung von Geschichte oder um exakte historische Recherche – obwohl sie alle Möglichkeiten dafür bieten.
So wie Bücher, Filme oder Podcasts erzählen auch digitale Spiele Geschichten. Sie lassen Spielende in eine Geschichte eintauchen. Viele Spieler und Spielerinnen wollen beim Spielen etwas erfahren und lernen. Geschichte wird hier greifbar: Digitale Spiele bieten so die Chance, geschichtlich Desinteressierte für geschichtliche Themen zu begeistern. Bei einem Besuch der Gamescom hörte ich, wie sich zwei 15- oder 16-Jährige über ein Spiel unterhielten und Parallelen von der fiktiven Handlung zu den realen historischen Ereignissen zogen. Die Geschichte des Spiels hatte sie also dazu gebracht, die historischen Begebenheiten zu recherchieren. Liegt hierin also eine Möglichkeit für Schulen, um die Anziehungskraft digitaler Spiele mehr als bisher für die Vermittlung historischer Themen zu nutzen?
Da ich zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre Vorsitzende der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm war, kam ich auf die Idee eines Serious Games zur Gedenkstätte Bullenhuser Damm. Ein digitales Spiel, das nicht in der Vergangenheit verharrt, sondern einen Bezug zur Gegenwart herstellt. Die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm wird oft als eines der grausamsten Verbrechen der Nazizeit bezeichnet: Zwanzig jüdische Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren wurden von der SS erhängt, nachdem an ihnen medizinische Versuche durchgeführt worden waren. Es ist aber auch eine Geschichte des jahrelangen Engagements von Einzelnen, ihres Kampfes um Gerechtigkeit und von Menschen, die wieder deutschen Boden betreten haben, obwohl sie dies nach der Ermordung ihrer Angehörigen nie wieder tun wollten.
Ich gebe regelmäßig Workshops in Schulen. Wenn ich Schülern und Schülerinnen die Frage stelle, was die NS-Zeit und der Holocaust mit uns heute zu tun haben, kommt fast immer die Antwort: Nichts. Erst im gemeinsamen Gespräch wird klar, dass die Geschichte noch immer in und um uns ist: in der deutschen Politik und Gesellschaft, aber auch in der Weitergabe (oder auch oft Nicht-Weitergabe) der familiären Erinnerung. Es gab in Deutschland einen Bruch beim Erzählen der eigenen Familiengeschichte, den wir bis heute nicht aufgearbeitet haben. Dabei ist Deutschland nur mit dem Wissen um den Holocaust zu verstehen, auch (oder vielleicht sogar besonders), wenn Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern während des Zweiten Weltkrieges noch nicht in Deutschland gelebt haben. Ein Serious Game könnte ein innovativer Ansatz sein, das Thema in die Klassenräume zu bringen und die Frage zu stellen, wie wir mit der deutschen Geschichte umgehen und was wir daraus lernen wollen. Deshalb nahm ich Kontakt zu Iris Groschek von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten auf, um mit ihr über diese Idee zu sprechen.
IRIS GROSCHEK, STIFTUNG HAMBURGER GEDENKSTÄTTEN UND LERNORTE ZUR ERINNERUNG AN DIE OPFER DER NS-VERBRECHEN UND KURATORIN DER AUSSTELLUNG IN DER GEDENKSTÄTTE BULLENHUSER DAMM
Die Anregung seitens der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm, dass junge Menschen einen anderen, offeneren und weniger konservativen oder erinnerungskulturell traditionellen Zugang zu Geschichte benötigen, auch wenn es um so einen berührenden Ort wie die Gedenkstätte Bullenhuser Damm geht, habe ich, auch vor dem Hintergrund der Studie der Arolsen Archives „Wie steht die GenZ zur NS-Zeit?“, gerne aufgenommen und überlegt, wie dieser Zugang im Digitalen aussehen kann.
Dabei war es von Anfang an klar, dass wir kein Spiel anbieten wollten, welches die Inhalte der Ausstellung nur dupliziert. Wir wollten die Spielenden auch nicht spielerisch in die NS-Zeit eintauchen lassen und ihnen suggerieren, dass bei den Geschehnissen am Bullenhuser Damm ein anderes Ende möglich gewesen wäre. Auf der anderen Seite war uns klar, dass wir das Medium „Spiel“ ernst nehmen möchten und, auch wenn es ein didaktisches Spiel werden sollte, eine Form von „Spielspaß“ anbieten wollen, um die Beschäftigung mit Themen, die mit der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, den historischen Geschehnissen und dem Thema Erinnerungskultur verbunden sind, zu fördern und Interesse an Geschichte und Erinnerung zu generieren. Angesprochen werden sollten Kinder und Jugendliche in ihrer heutigen Lebenswirklichkeit. Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, sich Geschichte aktiv anzueignen, um daraus Anregungen für die Beschäftigung mit aktuellen Fragen mitzunehmen. Ein Fokus einer in Form eines digitalen Spiels weitergedachten Gedenkstättenarbeit liegt auf historischen Aspekten gegenwärtig relevanter Diskurse sowie auf dem Aufzeigen von familiengeschichtlichen Verknüpfungen bis in die Gegenwart.
Da wir uns in der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte mit dem Thema digitale Spiele bisher noch nicht vertiefend beschäftigt hatten, haben wir uns zunächst gemeinsam mit der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm Expertise aus dem Entwicklerbereich geholt und mit mehreren Entwicklungsbüros über Möglichkeiten der Umsetzung gesprochen.
Um erste Ideen und damit die Grundlagen für die Inhalte einer „digitalen Multimedia-Anwendung“ zu sammeln, veranstalteten wir Ende November 2021 einen zweitägigen Online-Workshop. Beteiligt waren außer der Stiftung die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V. mehrere Bereiche der Universität Hamburg – das studentische Projekt Geschichte im Virtuellen Raum (GiVR), der Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik der Fakultät für Erziehungswissenschaft, der Fachbereich Geschichte | Public History – und Studierende und Young Professionals in der AG Angewandte Geschichte / Public History im VHD. In dieser Zusammenarbeit entwickelten die Beteiligten erste programmatische und konzeptuelle Überlegungen sowie Zielsetzungen für die Ausgestaltung eines solchen Produkts digitaler Gedenkstättenarbeit und erarbeiteten konkretisierte Vorschläge.
Dabei wurden konzeptuelle und didaktische Kriterien, Kriterien für die Medienanwendung, für Partizipation und Interaktion und anschließend sogar erste Gestaltungsideen entwickelt. Zum Beispiel wurde hier die Idee einer weiteren Zeitebene zwischen Tatzeit und Gegenwart als Aktionsebene konkretisiert. Hintergrund war, dass die Form einer spielerischen Aneignung von Geschichte aufgrund der dem Medium inhärenten immersiven Effekte, das Risiko, Opfer- und Täterperspektiven zu wiederholen und damit die Spielenden zu überwältigen, zu groß sei. So konnten wir dem grundlegenden Problem der Retrospektivität und seiner ethischen Grenzen, das durch ein „Zurückversetzen“ in die Tatzeit und zum Ort des Verbrechens entsteht, mit der Verlegung des Storytellings in die Nachkriegszeit begegnen.
Während viele Personen aus den Bereichen Forschung und Vermittlung positiv auf den Plan der Entwicklung eines digitalen Spiels reagierten, erhielten wir auch zurückhaltende Resonanz, sowohl aus dem schulischen Bereich als auch bei der Suche nach Partnern, die das Projekt finanziell unterstützen könnten. Es dauerte mehrere Jahre, bis wir mit der Alfred Landecker Foundation einen Förderer fanden, der unseren offenen Ansatz für förderungswürdig hielt. Mit Markus Bassermann konnten wir einen Projektleiter gewinnen, der sowohl über Kompetenz als Historiker, als auch über Erfahrung im Bereich der Geschichtsdarstellung in digitalen Spielen verfügt.
MARKUS BASSERMANN, PROJEKTLEITER DES DIGITAL REMEMBRANCE GAME-PROJEKTS „ERINNERN. DIE KINDER VOM BULLENHUSER DAMM“
Von dem Anspruch, ein digitales, erinnerungskulturelles Spiel nicht als klassisches Lernspiel zu entwickeln, sondern die ureigene Sprache des Mediums zu nutzen, war ich unmittelbar überzeugt. Dies entsprach meiner eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen, bei der mich insbesondere die Frage beschäftigte, wie Geschichte und Geschichtsbilder durch Spiele und deren Mechaniken, sprich: deren Interaktivität, vermittelt werden. Auffällig war dabei für mich die Schieflage, dass sich Spiele mit aller Selbstverständlichkeit geschichtlicher Themen bedienen, umgekehrt aber geschichtsvermittelnde Instanzen wie Gedenkstätten auf dieses Medium bislang kaum zurückgriffen.
Ins Zentrum unseres Projekts stellten wir vor diesem Hintergrund die Aufgabe, die von Nicole Mattern aufgeworfene Frage – pointiert: „Was hat das noch mit mir zu tun?“ – mit den Möglichkeiten eines digitalen Spiels zu beantworten. Dazu wollten wir nicht einfach die bestehenden Methoden der Gedenkstätte Bullenhuser Damm digital reproduzieren, sondern mussten uns überlegen, wie sich durch Narration, neue Bilder und vor allem die Interaktivität eines Spiels ein eigenständiger Beitrag zum erinnerungskulturellen Diskurs formulieren lässt.
Diese Herausforderung konnte nur in einem gemeinsamen kreativen Prozess angegangen werden. Deswegen legten wir bei der Suche nach einem Entwicklerteam besonderen Wert darauf, dass alle Leidenschaft für das Thema mitbringen und mit uns auf Augenhöhe, im gegenseitigen Austausch, arbeiten würden. Es war motivierend zu bemerken, dass unser Anspruch bei vielen Entwicklerinnen und Entwicklern auf Interesse stieß und hier eine große Offenheit und Bereitschaft gegeben sind, sich auf diese Weise als Kulturschaffende an Erinnerungskultur zu beteiligen.
Gemeinsam mit dem Entwicklungsstudio Paintbucket Games forcierten wir zunächst die bis dato noch vage Spielidee. Rasch entfernten wir uns von einer starken Koppelung an die eigentliche Tat, da wir bemerkten, dass wir allgemeiner über das Thema Erinnern und Erinnerung sprechen wollten, um nicht nur die aktuelle Bedeutung von Erinnerungskultur herauszustellen, sondern auch, um zu verdeutlichen, dass diese Resultat eines interaktiven, sich im steten Wandel befindenden Prozesses ist, an dem insbesondere junge Menschen immer teilhaben werden. Dies wollten wir im Spiel vermitteln: „Wie können wir ‚erinnern‘ interaktiv darstellen?“, ergänzte in diesem Sinne unsere anfängliche Leitfrage.
Mit der ursprünglichen, von Iris Groschek beschriebenen Projektidee war dazu ein solides Fundament gelegt worden. Insbesondere die zeitliche Einbettung des Settings in die 1970er-Jahre sollte sich dabei bewähren: Sie gab uns die Freiheit, unseren Protagonisten, fünf Schülerinnen und Schülern der damaligen Schule Bullenhuser Damm, spezifische Erinnerungserfahrungen zuzuschreiben, die den Nationalsozialismus tangieren, ohne unmittelbar zeitlich dort lokalisiert zu werden. Dadurch vermieden wir das Problem einer Darstellung der NS-Zeit sowie der Taten. Denn aufgrund der für ein Spiel notwendigen Handlungsfreiheit besteht immer ein Spannungsfeld zwischen der dargestellten (möglicherweise kontrafaktischen) Geschichte und der realhistorischen Faktenlage. Durch die zeitliche Verlagerung konnten wir dort, wo es entscheidend war, auf Letztere bestehen und in anderen Aspekten Ersterer Raum geben.
Ein zentraler Mechanismus, für den wir uns entschieden, war die Darstellung der Veränderbarkeit von Erinnerung: Unsere Protagonisten und Protagonistinnen begegnen Personen, die sich erinnern, und deren Erinnerungsbilder wir grafisch als begeh- und interagierbare Szenen darstellen. Statt diese nur statisch abzubilden, sind sie durch Fragen der Protagonsten, also durch Interaktion der Spielenden, veränderbar. Dadurch bilden wir verschiedene, ineinander verfließende oder auch sich widersprechende Erinnerungsebenen ab, um die Veränderbarkeit von Erinnerung plastisch wirken zu lassen. Im und durch das Spiel treten damit drei Perspektiven auf Erinnerung hervor: die der dargestellten Jugendlichen, ihrer Gesprächspartner und im vermittelten Sinne sowie im Unterricht, durch Lehrende angeleitet, auch die Perspektive der Spielenden.
Für eine kritische Begleitung des Projekts wurde zudem ein Beirat gebildet, der Experten u.a. aus den Bereichen Geschichtsdidaktik, Gedenkstättenarbeit, Public History, Digitale Spiele sowie Angehörige umfasst. Darüber hinaus haben wir – um zu prüfen, ob unser Unterfangen gelingt, – im Herbst 2023 begonnen, das Spiel parallel zu seiner Entwicklung mit Fokusgruppen von Schülerinnen und Schülern zu testen. Damit verfolgen wir drei Ziele: Zunächst wollen wir wissen, ob unsere Vermittlungsziele erreicht werden können. Zudem ist wichtig, herauszufinden, ob „Erinnern“ auch als Spiel funktioniert, das heißt, unterhält und motiviert. Und letztlich ist entscheidend, dass diese beiden Aspekte nicht kollidieren, sondern sich ergänzen und wechselseitig befördern. Das erste Feedback hat uns bereits überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind, kein um die nüchterne Vermittlung historischer Fakten bemühtes Lernspiel zu entwickeln, sondern ein Digital Remembrance Game, ein Spiel der digitalen Erinnerungskultur.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in der LaG-Magazin-Ausgabe "Erinnern in Digitalen Spielen" am 20. Dezember 2023 veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe kann hier heruntergeladen werden: https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/Magazin/15619