Vor einigen Jahren saß ich bei meiner Mutter. Meine Großmutter war im Jahr zuvor gestorben und wir hatten ihr Haus nach dem Verkauf ausgeräumt. Einiges hatten wir verkaufen können, vieles war auf dem Müll gelandet. Es waren körperlich und emotional anstrengende Tage. Immer wieder neu entscheiden zu müssen, was bleiben durfte (wenig) und was wegmusste (fast alles). In meinem ehemaligen Kinderzimmer, umgeben von Was ist was-Büchern und Abenteuerromanen, klappte ich eine alte Aktenmappe auf, die meine Mutter mitgebracht hatte.
Beim Lesen der brüchigen Dokumente wurde deutlich, dass ich weniger über meine Familie wusste als ich geglaubt hatte: Die Fundstücke erzählten die Geschichte eines Ladens, den meine Urgroßeltern gekauft hatten, und die seiner früheren Besitzer. Die eines jüdischen Kaufmannsehepaars. Es war keine eindeutige Geschichte. Der Vertrag zum Verkauf des Geschäfts war schon vor 1933 unterschrieben worden, das Paar wollte sich fürs Alter absichern und die Dinge möglichst früh regeln. Doch dann kam der 30. Januar 1933 und ein antisemitisches Gesetz nach dem anderen wurde erlassen. Schließlich wurde die Lage für Jüdinnen und Juden auch in dem kleinen Ort, in dem das Paar und meine Urgroßeltern lebten, unerträglich. 1938, noch vor den Novemberpogromen, verließ das jüdische Kaufmannsehepaar Deutschland, eine letzte Zahlung meiner Urgroßeltern an die beiden wurde hektisch vereinbart. Dann herrschte lange Stille.
Im Frühjahr 1945 übernahmen die Alliierten die Kontrolle und schauten bei allen Geschäften mit früheren jüdischen Besitzern besonders genau hin. Auch meine Urgroßeltern sollten beweisen, dass sie den Laden rechtmäßig erworben hatten. Vor allem ging es um die Frage, ob die letzte Zahlung 1938 vielleicht zu niedrig gewesen war. Bis zur Klärung der Sachlage durfte mein Urgroßvater keinen Kredit aufnehmen und konnte nur unter erschwerten Bedingungen neue Waren für seinen Laden kaufen. Kontakt zu den ehemaligen Besitzern, die Licht in die Sache hätten bringen können, gab es nicht. Erst Jahre später konnte die Familie in den USA ausfindig gemacht werden, wohin es sie nach langer Flucht verschlagen hatte.
Für meine Familie war die Geschichte hinter dem Kauf immer klar gewesen: Alles war natürlich korrekt verlaufen. Der Verkauf schließlich lange geplant. Dass die Flucht der Kaufmannsleute 1938 keine freiwillige war, spielte in meiner Familienerzählung keine Rolle. Empathie für die jüdischen Nachbarn konnte ich zumindest den vor mir liegenden Dokumenten nicht entnehmen – ganz im Gegenteil strahlten die Briefe in der Akte vor mir eine geschäftliche Kälte aus. An keiner Stelle schimmerte Interesse am Schicksal der früheren Nachbarn auf. Am Ende gab es zwar eine Einigung, aber kein Verständnis für die Situation der anderen.
Für mich ist das, was ich aus diesen Akten und den Erinnerungen meiner Mutter rekonstruieren kann, nicht eindeutig. Und darin ist unser Fall auf eine Art auch ein sehr gewöhnlicher.
Denn Deutschland ist voll mit diesen Geschichten.
Geschichten von Arisierung.
Geschichten von Vertreibung.
Geschichten von Mord.
Geschichten vom Mitmachen.
Geschichten vom Zuschauen.
Geschichten vom Helfen.
Geschichten von Opportunisten.
Geschichten von Überzeugten.
Geschichten von Widerständischen.
Geschichten von Opfern.
Geschichten von Täter*innen
Geschichten von unseren Nachbar*innen.
Geschichten von unseren Familien.
So wenig außergewöhnlich unsere Familiengeschichte auf eine Art sein mag, so bemerkenswert ist doch, dass viele dieser Geschichten nicht bekannt sind oder wir nur eine geschönte Version kennen. An den Historikerinnen und Historikern liegt es dabei nicht. Der Nationalsozialismus und der Holocaust sind bis ins Detail erforscht. Bis zu den untersten Entscheidungsebenen dringen die Studien inzwischen vor, die nach dem Wie und dem Warum fragen. Obwohl wir also theoretisch Zugriff auf all diese Fakten hätten, beschäftigen wir Nachfahren der Täter uns privat nur sehr selten mit der Frage, was denn nun genau in unseren eigenen Familien los gewesen ist in den Jahren vor, während und nach dem 2. Weltkrieg.
2021 gaben fast 70 % der Befragten der MEMO-Studie, die den Umgang mit der NS-Geschichte in Deutschland untersucht, an, dass sie ihre Vorfahren nicht zu den Täter im Nationalsozialismus zählten. 35 % glaubten sogar, dass sie unter den Opfern waren, und 32 % sahen ihre Vorfahren als Helfer von Opfern. Doch diese Zahlen decken sich nicht mit der historischen Realität – Täterschaft in all seinen Facetten war ein sehr viel weiter verbreitetes Phänomen als von den heutigen Generationen angenommen. Diese und ähnliche Umfragen beweisen, dass noch eine riesige Aufgabe auf uns wartet. Deutschland ist auch 2022 noch eine post-nationalsozialistische Gesellschaft (Astrid Messerschmidt), in der es noch viele Geschichten und Verstrickungen offenzulegen gilt. Vom Kauf billiger Möbel bei Besitzversteigerungen deportierter Jüdinnen und Juden oder Sinti und Roma über die Ausnutzung und Misshandlung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern auf fast allen Bauernhöfen des Landes bis zur Rolle von Hunderttausenden Wehrmachtssoldaten im Vernichtungskrieg.
Verzerrte Wahrnehmung der eigenen Familiengeschichte
Umso bemerkenswerter ist, dass sich Deutschland gerne als Erinnerungsweltmeister darstellt. Ich habe dieses Selbstbild auch oft von außen gespiegelt bekommen. Die Bewunderung von Kollegen aus anderen Ländern mit diktatorischer und gewaltvoller Vergangenheit über das, was Deutschland aufgebaut habe. Es geht mir deswegen nicht darum, das Erreichte kleinzureden und die Arbeit unzähliger engagierter Menschen zu negieren. Mir ist aber klar, dass das Ende dieses Aufarbeitungsprozesses noch lange nicht erreicht ist – wahrscheinlich auch niemals erreicht werden kann. Dabei ist das Eingeständnis des Unfertigen so wichtig. Denn das Gefühl, dass die deutsche Erinnerungskultur alles richtig macht, verstellt oft den Blick auf den Weg, den es noch zu gehen gilt.
Mit der Annahme, die eigenen Vorfahren seien vollkommen unschuldig gewesen, entlassen sich die nachfolgenden Generationen aus der Verantwortung für die Gegenwart. Der Trugschluss, “wir” hätten doch alles aufgearbeitet – oder, schlimmer noch, seien in Wahrheit doch fast alle die Nachfahren von Opfern des Nationalsozialismus – verstellt den Blick auf erschreckende Kontinuitäten. Wer also glaubt, im Land der Aufarbeitungsweltmeister könne es gar keinen Antisemitismus oder Antiziganismus mehr geben, den dürfte ein Blick in die Kriminalstatistik eines Besseren belehren. In der Zuspitzung wird daraus sogar immer häufiger der Vorwurf an Israel, die Aufarbeitung des Holocaust nicht ebenso erfolgreich vollzogen zu haben. Verdrängte Schuld und verdrängter Antisemitismus manifestieren sich dann häufig auch in einer unversöhnlichen „Israelkritik“, wie der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Samuel Salzborn, schreibt.
https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2021/11/brandenburg-hohenguestow-nazi-verbrechen-gedenktafel-zwangsarbeiter-historikerin-.html
https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2021/11/brandenburg-hohenguestow-nazi-verbrechen-gedenktafel-zwangsarbeiter-historikerin-.html
Recherche im eigenen Umfeld
Aus all diesen Gründen lohnt sich das Graben in der eigenen Familiengeschichte oder im eigenen Umfeld noch immer. Im Rahmen eines von der Alfred Landecker Foundation geförderten Projekts erforscht das Aktive Museum in Berlin die Geschichte der sogenannten „Judenhäuser“, von denen es zwischen 1939 und 1945 eine bisher unbekannte Zahl in der Stadt gab. Dort wurden Jüdinnen und Juden vor ihrer Deportation zwangsweise unter beengten Bedingungen untergebracht. Jüdisches Eigentum wurde zudem in erheblichem Umfang enteignet. Die Spuren dieser Gewaltgeschichte, die mitten im städtischen Raum stattfand, sind heute schwer zu finden. Dabei lohnen sich Fragen wie diese: Wem gehörte das Haus, in dem ich wohne oder das früher hier stand? Gab es vielleicht einen Besitzerwechsel? Wer hat davon profitiert?
Natürlich ist es unangenehm, darüber nachzudenken, was die Geschichte von Diktatur und Völkermord für die eigene Gegenwart bedeutet. Ob der eigene Wohlstand vielleicht auf der Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern beruht. Oder ob die (Ur-)Großeltern, die man doch als liebevolle Personen in Erinnerung behalten möchte, in das Unrecht verstrickt gewesen sein könnten. Die Historikerin Sarah Grandke geht genau diesen Fragen trotzdem nach(1). 1942 oder 1943 wurde in ihrem Heimatdorf in Brandenburg ein polnischer Zwangsarbeiter öffentlich erhängt. Was vor 15 Jahren bei einem Interview mit ihrer Großmutter nur in einem Nebensatz erwähnt wurde, ist jetzt das Zentrum ihres Interesses. Grandke musste erfahren: Die Suche nach Antworten gestaltet sich schwer, die „Steine“, die sie „ins Wasser wirft“, führen zu Abwehrhaltungen und sorgen nicht für die notwendige Aufarbeitung eines Verbrechens, das viel zu lange unaufgeklärt geblieben ist.
Update der Erinnerungskultur zur Stärkung der Demokratie
Unter anderem aus meiner persönlichen Familiengeschichte stelle ich fest, dass wir weit von einem Ende der Aufarbeitung entfernt sind. Das Erinnern und das Nachfragen müssen als fortlaufender Prozess verstanden werden – im privaten, sowie im öffentlichen Raum. Damit wir beidem nicht überdrüssig werden, braucht es ein dringend benötigtes Update für die Erinnerungskultur in Deutschland. Wir sollten uns trauen, neue, auch digitale Formate zu entwickeln und darüber hinaus das ritualisierte Gedächtnistheater und die Sonntagsreden an den einschlägigen Jahrestagen aufzubrechen. Statt eines schlagworthaften “Nie Wieders”, das letztlich nur der Selbstvergewisserung dient, brauchen wir mehr Wissen darüber, unter welchen Bedingungen sich die NS-Diktatur zwölf Jahre lang halten konnte. Wenn wir ein besseres Verständnis entwickeln für die vielschichtigen Formen von Täter- und Mittäterschaft und den daraus erwachsenden Verstrickungen auch für die eigene Familie, wäre ein wichtiger Schritt getan. Denn auf diese Art und Weise stärken wir unser aller Sensorium dafür, wie fließend die Grenzen sein können zwischen Recht und Unrecht, wie schwierig Gewissensentscheidungen fallen können, wenn der Druck steigt. Nicht aus dem Schwarzen und Weißen, sondern aus den Graustufen können wir lernen. Das gilt für meine Familie – und vermutlich für die meisten anderen auch.