AL: Welche Themen haben die Zwischenwahlen in diesem Jahr bestimmt? Welche Trends und Narrative haben Sie im Vorfeld der Zwischenwahlen beobachtet?
JC: Identität (Geschlecht, Sexualität, Ethnie) und so genannte Familienwerte, Kriminalitätsraten, Inflation, Wirtschaft, Reproduktionsrechte und Abtreibung sowie Wahlverweigerung und Verschwörungen, die sich auf den Ergebnissen von 2020 gründen.
Welche Rolle spielen Desinformationskampagnen bei diesen Wahlen? Ist eine Einmischung oder ausländische Einflussnahme durch andere politische Akteurinnen und Akteure - sei es China oder Russland - zu erwarten und wenn ja, in welchem Ausmaß?
Wir sprechen nicht mehr von Erwartungen, sondern von Fakten. Im Wahlkontext überflutet Desinformation permanent die amerikanischen Newsfeeds – und das schon seit Monaten und Jahren. Die Kandidatinnen und Kandidaten stützen ihre Kampagnen auf die Leugnung der Wahlergebnisse aus dem Jahr 2020 und es ist unklar, ob mehrere Kandidatinnen und Kandidaten die Wahlergebnisse akzeptieren werden, sollten sie nicht gewinnen. Desinformation ist in Radio, Fernsehen und sozialen Medien auffällig weit verbreitet. Die Amerikanerinnen und Amerikaner erhalten ihre Informationen aus so unterschiedlichen Quellen, dass es nicht nur einen ursächlichen Verbreitungsweg für Desinformation gibt.
Desinformation untergräbt das Vertrauen der Wählerschaft in Kandidatinnen und Kandidaten, Politik, Systeme und Wahlprozesse, radikalisiert sie zu stärkerem Aktivismus oder im schlimmsten Fall zu gewalttätigem oder aggressivem Verhalten und lenkt von den wirklichen Problemen der Menschen ab. Desinformation ist vor allem deshalb so erfolgreich, da die Richtlinien der Plattformen versagen und die Produktfeatures systematisch dazu beitragen, dass negative Narrative und zweifelhafte Akteurinnen und Akteure an Bedeutung gewinnen.
Welchen Einfluss haben Trumps "Wiederkehr" und seine "Sympathie" für QAnon Ihrer Meinung nach auf den Wahlkampf?
Es geht gar nicht so sehr um sein Wiederauftauchen und sein Wohlwollen QAnon gegenüber, sondern vielmehr um die Entscheidung, die Zielgruppe, die sich um QAnon gebildet hat, für die auf Trump fixierte, sich um die Wahlergebnisse 2020 rankende Verschwörungserzählung zu nutzen. Jared Holt von ISD hat bereits im September 2023 einen Artikel darübergeschrieben.
Die beiden Welten - Trump und QAnon - sind jetzt fast zu ein und derselben Welt geworden. Die Mainstream-Akteurinnen und -Akteure haben es nicht geschafft, die Leute erfolgreich von QAnon abzubringen. Wenn sie sich dennoch abgewandt haben, dann lediglich aus Gründen der Ermüdung oder Enttäuschung über die nun vollständige Fokussierung auf Trump gegenüber den Schwerpunkten in der Vergangenheit, die die Sicherheit von Kindern stärker in den Mittelpunkt der Verschwörung stellten. Dass Trump sich QAnon im Rahmen der diesjährigen Wahlen stärker zu eigen macht, zeigt nur, dass er ein sehr engagiertes Publikum, das seine Argumente aufgreift und wiederholt, für sein Machtstreben nutzen will.
Wie gehen die Plattformen mit den Herausforderungen der Des- und Fehlinformation anders um als 2020 - was sind die sogenannten "Lessons Learned"?
Auf Wahlversprechen in den sozialen Medien kann sich die Gesellschaft leider nicht verlassen. Wir wissen, dass sie in der Vergangenheit Maßnahmen ergriffen haben, die funktionierten (z. B. Meta/Facebooks sogenannter "break glass"-Plan im Jahr 2020), die sie inzwischen aber trotz positiver Ergebnisse wieder eingestellt haben. Das ist besonders bedauerlich, weil wir gleichermaßen wissen, dass bestimmte Akteurinnen und Akteure schon lange vor dem Wahlmonat versuchen, negativen Einfluss auf die Wählerschaft sowie die Wahlen an sich zu nehmen. Angesichts der Tatsache, dass Technologieunternehmen kürzlich den Zugang zu Daten für Forschende eingeschränkt und es wiederholt versäumt haben, ihre eigenen Richtlinien dann auch durchzusetzen – obwohl es gute Richtlinien gibt – müssen wir alle hoffen, dass sich von heute auf morgen etwas ändern wird, das sie dazu inspirieren wird, dieses Mal das Richtige zu tun. Die Plattformen haben auch neue Funktionen entwickelt, um mit dem Markt Schritt zu halten, (z.B. Kurzvideos), ohne jedoch eine angemessene Risikobewertung durchzuführen. Das Ergebnis ist, dass diese neuen auf Wachstum ausgerichteten Funktionen dem gesamten Wahlinformations-Ökosystem schaden und die Wählerschaft in die Irre führen.
Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Zwischenwahlkampf? Worauf müssen wir in Zukunft achten - auch in anderen Ländern?
1. Videos, insbesondere Kurzvideos, werden sich weiterhin als wirksames Mittel der Desinformation erweisen. Für Forscherinnen und Forscher wird deren Nachverfolgung und Abschwächung eine große Herausforderung werden. Die ISD-Forschung verdeutlicht diesen Trend hier.
2. Wenn die Plattformen weiterhin ihre Ressourcen, die für Vertrauen und Sicherheit sorgen sollen, kürzen und Digitalrichtlinien in den USA weiterhin derartig hinterherhinken, müssen wir die Bedrohungslandschaft on- und offline genau beobachten, da sie durch die verschiedenen Features der Plattformen noch verschlimmert wird und weitgehend unkontrolliert bleibt.
3. Kandidatinnen und Kandidaten, die Desinformationsbehauptungen wie Wahlleugnung als ihre primäre Plattform nutzen, insbesondere diejenigen, die sich um Positionen auf staatlicher Ebene mit erheblicher Kontrolle über Wahlen bemühen, werden weiterhin eine Gefahr darstellen. Je nachdem, wie solche Kandidatinnen und Kandidaten bei dieser Wahl abschneiden, könnten wir in Zukunft mehr oder weniger davon sehen.
4. Auch wenn ausländische Akteure aufgrund des Umfangs der im Inland generierten Desinformationen nicht mehr im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung mit Desinformation stehen, nehmen sie Wahlen und die Wählerschaft jedoch weiterhin wirksam über verschiedene Kanäle ins Visier, indem sie eine Reihe verschiedener Taktiken, Plattformen, Messenger und Narrative einsetzen.