Die Politisierung von Migration in Großbritannien
Wie die Reaktionen auf Ukrainer und Ukrainerinnen, die heute in Großbritannien Schutz suchen, historische Parallelen widerspiegeln


Von Eliana Hadjisavvas und Sebastian Musch

Das Eigenlob der britischen Regierung für die Aufnahme von Menschen, die in Großbritannien Zuflucht suchen, steht in krassem Gegensatz zu der vergleichsweise geringen Zahl von Visa, die vor dem Krieg fliehenden Ukrainer und Ukrainerinnen erteilt werden. Unsere Landecker Lecturer Eliana Hadjisavvas und Sebastian Musch beleuchten die historischen Parallelen der zurückhaltenden britischen Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs und den Lehren, die politische Entscheidungsträger daraus für die Gegenwart ziehen sollten.

"Insgesamt können wir in Großbritannien auf eine enorme Erfolgsbilanz zurückblicken. Wir haben 25.000 Flüchtlinge aus verschiedenen Konfliktregionen der Welt aufgenommen, wir blicken auf eine lange Willkomenstradition zurück... Ich denke, wir müssen aufhören, dieses Land schlechtzureden, aufhören, unsere historische Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen schlecht zu reden, und ihr stattdessen Achtung zollen.“ Diese Worte stammen aus einem leidenschaftlichen Plädoyer der konservativen Abgeordneten Suella Braverman zur Politik der britischen Regierung gegenüber ukrainischen Flüchtlingen. Doch bei dem Publikum der letzten Ausgabe einer BBC-Polittalkshow fanden sie kaum Anklang. Die Zuschauer vernahmen sie ungerührt, rollten mit den Augen oder schüttelten sogar die Köpfe. Bravermans Darstellung Großbritanniens als sicherer Hafen für Flüchtlinge hatte eindeutig nicht den patriotischen Beifall hervorgerufen, den sie erwartet haben mag.

Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar sind Ukrainerinnen und Ukrainer ohne Visum aus ihrer Heimat geflohen und haben sich auf den Weg zu den Grenzen gemacht, um sich bei ihren europäischen Nachbarn in Sicherheit zu begeben. Während Polen, Rumänien und die Republik Moldau gemeinsam fast 4,5 Millionen Menschen in ihrem Land aufgenommen haben, hat Großbritannien im Rahmen des staatlichen Hilfsprogramms „Homes for Ukraine“ gerade einmal 11.500 Visa ausgestellt. Die große Bereitschaft der Briten, die vertriebenen Ukrainer bei sich aufzunehmen, wurde durch die Bürokratie und die Unnachgiebigkeit der Regierung behindert, die sich auf Sicherheitsbedenken berief und die Bearbeitung der erforderlichen Dokumente behinderte. Doch auch wenn das Vorgehen der Staatsführung bei der Öffentlichkeit auf Unverständnis stößt, handelt es sich keineswegs um eine neue politische Haltung. Bedauerlicherweise ist das Gegenteil der Fall. Das UN-Flüchtlingshilfswerk stellte fest, dass Europa seit dem Zweiten Weltkrieg keinen so schnellen Vertreibungsprozess mehr erlebt hat. Braverman mag der Verweis auf das historische Erbe Großbritannien angemessen erschienen sein. Aber wie hat das Land während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit auf die vor dem Nationalsozialismus Flüchtenden reagiert? Und was kann man, wenn überhaupt, aus dieser zwar deutlich anderen, aber doch ernüchternd relevanten historischen Situation lernen?

Trotz viel beachteter und lobenswerter Initiativen wie dem Kindertransport, der 10.000 Kinder aus den von Nazis beherrschten Gebieten rettete, war die britische Reaktion auf jüdische Flüchtlinge aus Europa während des Zweiten Weltkriegs oft von starken Widersprüchen geprägt. Als das Naziregime die Verfolgung der deutschen Jüdinnen und Juden verschärfte und diskriminierende Gesetze erließ – etwa die Nürnberger Gesetze von 1935 – wuchs die Not in den jüdischen Gemeinden, aus ihrer Heimat zu fliehen. Wie der spätere erste Staatspräsident Israels, Chaim Weizmann, 1936 bemerkte: „Es gibt jetzt zwei Arten von Ländern in der Welt: diejenigen, die die Juden vertreiben wollen, und diejenigen, die sie nicht aufnehmen wollen.“ Die Befürchtung der britischen Regierung, ein Zustrom von „nicht assimilierbaren“ jüdischen Geflüchteten könne die Gesellschaft überfordern, führte dazu, dass nur etwa 10 Prozent der schätzungsweise 600.000 Visumanträge genehmigt wurden. Das Scheitern der Konferenz von Évian im Jahr 1938, auf der eine Lösung für die Ansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland gefunden werden sollte, führte dazu, dass viele Menschen während des Holocausts umkamen. Fünf Jahre später, im Jahr 1943, scheiterte die wesentlich kleinere, aber ebenso ergebnislose amerikanisch-britische Bermuda-Konferenz zur Lage der Geflüchteten erneut daran, sichere Zufluchtsorte zu schaffen, obwohl immer mehr Einzelheiten des genozidalen Vorgehens der Nazis bekannt wurden. Solche Beispiele erinnern daran, dass es der britischen Asylpolitik im Allgemeinen nicht gelungen ist, gefühlvollen Worten auch Taten folgen zu lassen.

Selbst in Zeiten von Krieg und Völkermord wurde eine restriktive Migrationspolitik von Politikern stets mit Sicherheitsbedenken begründet. Die Angst vor dem Eindringen „unerwünschter“ oder gar böswilliger Fremder hat nicht nur die Politik beeinflusst, sondern wurde auch genutzt, um eine fremdenfeindliche Stimmung zu schüren. Die frühe Warnung der britischen Innenministerin Priti Patel, russische Spione könnten sich als ukrainische Geflüchtete ausgeben, erinnert an ähnliche Äußerungen über vermeintliche Nazi-Spione, die sich als jüdische Flüchtlinge ausgeben könnten, oder in jüngerer Zeit über Terroristen des Islamischen Staates, die angeblich 2015 nach Europa gekommen seien. Diese Bedenken sind zwar nicht immer völlig unbegründet, aber die strengen Sicherheitsüberprüfungen führen häufig dazu, dass gerade die verzweifeltsten und hilfsbedürfstigsten Personen nicht geschützt werden. Sicherheitspolitische Begründungen sind zu einem beliebten Mittel konservativer Politiker zur Einschränkung der Einwanderung geworden. Aber auch dies ist keineswegs eine neue Taktik. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden deutsche, italienische und österreichische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen von der britischen Regierung als „feindliche Ausländer“ betrachtet. Einige von ihnen wurden in Internierungslagern eingesperrt, während andere nach Übersee deportiert wurden. Dazu zählten auch fast 30.000 jüdische Flüchtlinge, die aufgrund ihrer Nationalität zusammen mit pronazistischen Deutschen inhaftiert wurden. Patels Versuch, den Nowitschok-Giftanschlag in Salisbury als Rechtfertigung für die verstärkte Kontrolle von vor der russischen Armee fliehenden Flüchtlingen aus der Ukraine zu nutzen, spiegelt in gewisser Weise historische Haltungen wider, bei denen nicht zwischen Opfern und Tätern unterschieden wurde, sondern alle Staatsangehörigen kollektiv als Sicherheitsbedrohung betrachtet wurden. Die Nutzung von Flüchtlingen für politische Zwecke hat in Vergangenheit und Gegenwart nicht nur die Migrationspolitik vorgegeben, sondern auch die humanitären Hilfsmaßnahmen untergraben und das Recht des Einzelnen auf Asyl gefährdet.

Ein Ende der Kämpfe in der Ukraine ist nach wie vor nicht abzusehen. Die Geschichte lehrt uns jedoch, dass ein Ende der Gewalt nicht immer auch ein Ende der Notlage von zur Migration Gezwungenen bedeutet. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren in ganz Europa noch etwa 11 Millionen Menschen auf der Flucht. Viele jüdische Flüchtlinge, die nicht in ihre ehemalige Heimat zurückkehren konnten oder wollten, wanderten in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina aus, wo die Gründung eines jüdischen Staates unmittelbar bevorstand. Im Rahmen des restriktiven britischen Weißbuchs von 1939 wurde die Einwanderung von Jüdinnen und Juden nach Palästina auf 75.000 Visa für die nächsten fünf Jahre begrenzt. Auch nach Kriegsende wurden diese strengen Einwanderungsmaßnahmen aufrechterhalten, was viele Holocaustüberlebende dazu zwang, sich auf „illegalen“ Wegen über das Mittelmeer zu begeben, um heimlich nach Palästina zu gelangen. Um der Einreise auch in Zukunft entgegenzuwirken, richtete die britische Regierung in ihrem ehemaligen Kolonialgebiet Zypern Internierungslager ein, in denen zwischen 1946 und 1949 etwa 53.000 vertriebene Jüdinnen und Juden eingesperrt wurden.

In den letzten Jahren hat die Frage der Illegalitätdie Reaktionen der Nationalstaaten auf die Migrationskrise bestimmt. In Südeuropa befinden sich zahlreiche Lager und die Einrichtung von dauerhaften Offshore-Gefängnissen wird als praktikable Lösung angepriesen. Die jüngste Ankündigung der britischen Regierung, Asylbewerber in Zentren in Ruanda in Gewahrsam zu nehmen, veranschaulicht die Richtung des zukünftigen Vorgehens der Politik. Auch wenn es wichtig ist, die unterschiedlichen historischen Kontexte zwischen damals und heute und die jeweiligen Beweggründe der Menschen im Zentrum dieser Prozesse zu berücksichtigen, so ist doch klar, dass sich die Menschen angesichts der Verfolgung weiter bewegen werden – und sich kaum durch eine Inhaftierung davon abhalten lassen.

In den letzten zehn Jahren wurde Europa zum Zufluchtsort für Menschen, die weltweit vor Konflikten und Unterdrückung fliehen. Jetzt sind es die Europäer selbst, die aus ihren Heimatländern vertrieben werden. Da Migranten und Migrantinnen weiterhin Grenzen auf dem Land- und Seeweg überqueren, betonen humanitäre Organisationen, wie wichtig es ist, sichere Routen für Asylbewerberzu finden, was die derzeitige Krise anschaulich verdeutlicht hat. In einem offenen Brief an die Zeitung The Telegraph äußerten sich Historiker und Historikerinnen besorgt über die unzureichende Reaktion der britischen Regierung auf die ukrainischen Flüchtlinge und wiesen auf die historischen Parallelen zur Notlage der europäischen Jüdinnen und Juden hin. Dabei geht es nicht darum, „die historische [Hilfs]bereitschaft ... schlecht zu reden“, wie Suella Braverman es formulierte, sondern darum, historische Narrative vom Scheitern der Politik als solche anzuerkennen. So lässt sich der Kontext der heutigen Migration verstehen, was wiederum als Lehre für einen dauerhaften Wandel genutzt werden muss.

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