Über Resilienz: Uns müde machen ist ihr Ziel. Lasst es nicht unseres sein.


Rabbinerin Rebecca Blady, Geschäftsführerin unseres Partners Hillel Deutschland, eröffnete das diesjährige "Festival of Resillience" im Jüdischen Museum Berlin mit einer emotionalen Rede.

Berlin, 06.10.2022

In den letzten drei Jahren hatten wir von Hillel das Privileg, das Festival of Resilience mit einer Art privaten Raums, einem stundenlangen Jom Kippur G-ttesdienst im nahen Neukölln zu eröffnen.Letzte Nacht verließ ich den G-ttesdienst, bei dem immer auch Gebetsleitende und Torahlesende von unserer kleinen Gruppe Halle-Überlebender mitwirken, wie im Rausch. Jom Kippur, der heilige jährliche Fasttag im jüdischen Kalender, fokussiert auf Selbstreflexion, Buße, Vergebung und Einheit mit G-tt, war schon immer einer meiner Lieblingsfeiertage.

Ich fühlte mich, als hätte ich endlich diesen Tag zurückgewonnen. Abgetrennt von der Welt, auf die bloßen Grundlagen meiner Menschlichkeit reduziert, floriert meine Kommunikation mit G-tt. Dann, wie ich es jedes Jahr tue, nachdem ich einige friedliche Stunden nach den ersten Bissen Essen vergehen lasse, schaltete ich mein Handy an, um die Stadt zu enthüllen, die dieses Jahr einen antisemitischen Angriff erleben musste: Hannover. Ein zerbrochenes Fenster in der Frauensektion der Synagoge, ein Gotteshaus für 200 Leute, in der Mitte des Ne’ilah Gebets am Ende des Tages. Die verwundbarste Zeit, vor dem abschließenden Klang des Shofars, wenn alle physisch am schwächsten sind.

Nachdem ich die ersten Nachrichten gelesen hatte, schaute ich auf Instagram. Meine jüdisch-aktivistischen Mitstreiter schrieben „Bin ich müde. I’m tired“

Tatsächlich: dies ist das vierte Jahr in Folge, das die jüdischen Gemeinden in Deutschland durch Terroristen an Jom Kippur und Sukkot erschüttert wurden.

Halle. Hamburg. Hagen. Jetzt, Hannover. Natürlich seid ihr müde. Ich bin müde. Aber, meine Freunde, „müde“ ist IHR Ziel. Lasst es nicht unseres sein.

Terroristen untergraben unsere Sicherheit in Deutschland, sie verwenden unsere heiligsten Tage, um die größte Müdigkeit zu verursachen. Mittlerweile werden viele von uns denken: wenn wir schon an unseren heiligsten Tagen nicht sicher sein können, wie können wir den Rest des Jahres sicher sein? Es ist zu ermüdend, hier ein Leben aufzubauen. Das ist, was sie uns denken lassen wollen - weil es uns von mehr Sichtbarkeit, von mehr Authentizität, darin, wie wir unsere Leben leben, abhält.

Und es droht auch, einen Keil in uns zu treiben. Wenn wir zu müde werden, riskieren wir es, einen terroristischen Akt gegen einen anderen terroristischen Akt aufzuwägen. Ich habe nicht genug Energie, mich um alles zu kümmern, also lasst mich auswählen. Doch wenn wir uns in einer Position wiederfinden, wo wir Urteile über unsere anderen Gemeindemitglieder fällen - auch das erfüllt ihr Ziel.

All dies bringt mich zu dem, was wir hier tun. Als wir 2020 ursprünglich die Ceremony of Resilience ins Leben gerufen haben, entschieden wir uns, Redner:innen einzuladen, die Jahre ihres Lebens damit verbracht haben, Resilienz als Antwort auf Hass zu kultivieren. In diesem ersten Jahr waren Farouk Arslan und Anetta Kahane bei uns und teilten mit uns Nachrichten der Inspiration und Wege, um Stärke aufzubauen.

Dieses Jahr befinde ich mich in einer komischen Position. Da ich selbst aus dem Gebetsraum der Hallenser Synagoge in Sicherheit geflüchtet bin, kann ich mir die Sorge, die Angst, die zerstörte Gelegenheit G-tt für seine letzten Tropfen Gnade anzuflehen, während sich die Tore des Himmels an Jom Kippur schließen, bildlich vorstellen. Ich kann sogar die spirituelle Krise nachvollziehen, welche Gemeindemitglieder wahrscheinlich jetzt befällt. Ich möchte dem Gemeinderabbiner Shlomo Afanasaev, dem Vorstand, der Gemeindeleitung meine tiefsten Wünsche von Zuneigung und Betroffenheit aussprechen - die Aufgabe, die vor Ihnen liegt, ist zu groß, um sie sich vorzustellen. Wie werden sie sich um ihre Gemeinde kümmern?
Wie werden Sie die Last tragen, sie zur Heilung zu bringen, wo Sie doch selber dort waren?

Und ich kann drei Jahre danach sagen: Ich habe meine eigene Antwort hier gefunden, in Widerstandskraft. Resilienz lehrt uns die vielen Wege, die Menschen nach Momenten des Traumas und der Tragödie beschreiten können.

Wir gehen nicht zwangsläufig „vorwärts“, und wir gehen nicht zwangsläufig „weiter“, das ist wirklich viel verlangt, aber wir bewegen uns. Das ist der Unterschied zwischen Gedenken und Resilienz.

Resilienz ist ein Werkzeug für Bewegung. Sie verspricht nicht, alles zu heilen, aber sie kann uns stärken.
Das Schöne an der Resilienz ist, dass sie so viele Formen annehmen kann. Wir lernen, die Vergangenheit in unsere Existenz zu integrieren, dynamisch zu bleiben, Hoffnung zu finden, uns von Kunst, Poesie, Musik, Texten und Zeugnissen inspirieren zu lassen. Wir lernen, in der Welt zu leben, wir lernen, weiterzulernen, neugierig gegenüber uns selbst und unserer Mitmenschen zu sein.
Die Zeremonie, das Hauptevent des Festival of Resilience, zielt darauf ab, uns aus unseren Geschichten aufzubauen, unsere Stärke zu sammeln, einen Weg nach vorne zu finden. Es geht darum, Jana L. und Kevin S. zu ehren, die ihre Leben an hasserfüllte Gewalt verloren, deren Leben - so fühlt es sich an - im Austausch für unsere genommen wurden.

Wir werden Menschen begegnen, die Gewalt erleiden mussten. Hass. Terror. Migration. Den Tod - eines geliebten Menschen oder eines Fremden. Wir werden an Kriege erinnert, wie den sinnlosen Krieg in der Ukraine, und an den Kampf für Menschenrechte, wie den, den Frauen heute im Iran führen.

Wir werden berücksichtigen, dass es immer jemanden gibt, dessen Geschichte nicht erzählt wird, wenn wir Bilder malen und Erzählungen über diese menschlichen Momente formulieren. Und wir können nur hoffen, dass wir diesen Geschichten gerecht werden.

Der Talmud lehrt uns:
לֹא תֹהוּ בְרָאָהּ, לָשֶׁבֶת יְצָרָהּ.

G-tt hat die Welt nicht geschaffen, damit sie eine chaotische Einöde ist; G-tt hat die Welt geschaffen, damit sie bewohnt wird.

Im Folgenden werden Sie feststellen, dass wir eine gemeinsame Herausforderung vorfinden: Sind wir hier zu Hause? Dieser Ort, Deutschland - ist er unsere Heimat?

Es ist eine besonders akute Frage am Tag nach Jom Kippur. Jetzt, wo uns Leben gewährt wurde, wie können wir leben?
Jedes Jahr markiert das Festival of Resilience meine persönliche Wiederbegegnung mit dieser Frage. Für mich ist Heimat ein Ort, den ich aufbauen möchte. Für andere, die ihr heute Abend hören werdet, mag Heimat etwas ganz anderes bedeuten.

Ich lade Sie ein, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
Ich lade Sie ein mitzuerleben, wie diejenigen Resilienz vorleben, wenn die Frage nach der Heimat unklar bleibt, wenn Wurzeln entrissen werden.
Ich hoffe, dass das, was wir miteinander teilen, Ihnen Inspiration und Kraft und natürlich auch Widerstandskraft für Ihren eigenen Weg geben wird.

Abschließend möchte ich Ihnen allen für Ihre Resilienz danken.
Durch Pandemien, durch Kriege.
Durch persönliche, akademische, wirtschaftliche und familiäre Kämpfe.
Durch Kämpfe für die Freiheit in der ganzen Welt. Ich danke Ihnen, weil Sie hier sind.

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