#LastSeen
Deportationsfotos aus jüdischer Perspektive


Ein zufälliger Archivfund entpuppt sich als rares zeitgeschichtliches Dokument. Die bisher unbekannten Aufnahmen von Jüdinnen und Juden aus Breslau kurz vor ihrer Deportation sind im digitalen Bildatlas des internationalen Forschungsprojektes #LastSeen zu sehen.

Der internationale Forschungsverbund #LastSeen. Bilder der NS-Deportationen präsentiert bislang unbekannte Fotos von verfolgten Juden während des Nationalsozialismus. Die Originalbilder, auf denen jüdische Opfer aus Breslau kurz vor der Deportation zu sehen sind, wurden vor Kurzem in Archivbeständen des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden in Dresden gefunden und verifiziert. Die Fotos stammen von einem jüdischen Fotografen, der diese bei zwei Deportationen in den Jahren 1941 und 1942 unter größtem Risiko heimlich aus dem Versteck gemacht hatte. Die Bilder wurden am 8. November 2023 in dem digitalen Bildatlas #LastSeen veröffentlicht.

Der ebenso zufällige wie sensationelle Archivfund ermöglicht völlig neue Perspektiven auf die Deportationen von als Juden verfolgten Menschen in Breslau“, sagt Dr. Alina Bothe, Projektleiterin des internationalen Forschungsprojekts #LastSeen. Bei dem Fund handelt es sich um 13 Originalabzüge. Die Bilder zeigen die klare Absicht des Fotografen, das schreckliche Geschehen für die Nachwelt zu dokumentieren. Dies ist außergewöhnlich, da nur sehr wenige Fotografien von Deportationen überliefert sind, die von Verfolgten aufgenommen wurden. Die Aufnahmen zeigen zwei verschiedene Deportationen: Zwölf Fotos wurden im November 1941 geschossen, ein weiteres im April 1942.

Der Fotograf

Nach Abgleich der Möglichkeiten ist als sehr wahrscheinlich anzunehmen, dass die Bilder von Albert Hadda (1892-1975) angefertigt wurden. Hadda war Architekt und ein sehr erfahrener Hobbyfotograf mit exzellenter Ausstattung. Nach Sichtung der Aufnahmen ist klar: Die Fotografien wurden weder von einem Täter noch von einem zufälligen Passanten aufgenommen, da der Zutritt zum Gelände für Unbeteiligte verboten war. Die Aufnahmen sind aus dem Verborgenen von einem versierten Fotografen angefertigt worden, der über die entsprechende Ausrüstung verfügte. Durch seine Ehe mit einer Nicht-Jüdin war Hadda zunächst partiell geschützt. Er arbeitete bereits seit einem Berufsverbot 1934 weitestgehend für die Jüdische Gemeinde Breslau und betreute ab April 1942 die Deportationstransporte im Auftrag der Gemeinde auch offiziell. Er fertigte trotz Verbots mehrere heimliche, dokumentierende Aufnahmen an, die sich heute in Privatbesitz befinden. Hadda wurde 1944 in ein Zwangsarbeitslager gebracht. Im Januar 1945 glückte ihm die Flucht nach Breslau, wo er sich bis zur Befreiung versteckte. Mit einem Transport Überlebender gelangte er aus Breslau zunächst nach Erfurt, später lebte er in Frankfurt am Main. Es ist anzunehmen, dass Hadda die Fotos in Erfurt übergab und sie von dort nach Dresden gelangten.

Was ist auf den Bildern zu sehen?

Albert Hadda fotografierte aus dem Verborgenen. Auf den neu entdeckten Originalabzügen ist zu erkennen, dass die Bilder hinter Mauervorsprüngen und aus Fahrzeugen heraus aufgenommen wurden. Die Fotos zeigen, wie sich die Menschen am Deportationsort versammeln mussten. Sie bereiten sich auf die Abfertigung und den noch unklaren Abtransport vor. Überall stapelt sich Gepäck. Wenngleich der Fotograf noch nicht wissen kann, was mit den Menschen geschehen wird, scheint ihm klar, dass sich hier ein Verbrechen abspielt, das er festhalten muss: Die Aufnahmen zeugen von Haddas dokumentarischem Blick auf die Ereignisse.

Die Fotos aus dem November 1941 zeigen die Sammlung der Menschen im Biergarten der Gaststätte Schießwerder, die Verladung des Gepäcks sowie weitere Aspekte der sogenannten Durchschleusung, der „Abfertigung“ der zur Deportation bestimmten Personen. Das Bild aus dem April 1942 zeigt, wie vier ältere, mit schwerem Gepäck beladene Frauen die Gaststätte Schießwerder betreten und sich dort zur Deportation einfinden.

Der historische Hintergrund:

Am 21. November 1941 wurden mehr als 1.000 Breslauerinnen und Breslauer von der Polizei verhaftet und in die Gaststätte Schießwerder nahe des Bahnhofs Odertor gebracht. Dort mussten sie auf engstem Raum insgesamt vier Tage verbringen, bevor sie am 25. November in einen Zug ins litauische Kaunas gezwungen wurden. Vier Tage nach der Ankunft in Kaunas wurden alle Menschen von einem Einsatzkommando im Fort IX erschossen. Es gibt keine Überlebenden dieser Deportation. Die Fotos sind damit die letzten Zeugnisse der Ermordeten. Ab dem 9. April 1942 wurden abermals fast 1.000 jüdische Menschen in der Gaststätte Schießwerder in Breslau gesammelt und von dort aus am 13. April mit einem Zug ins polnische Izbica transportiert. Es ist nicht bekannt, ob es Überlebende dieser Deportation gab.

Der Forschungsverbund #LastSeen

Der internationale Forschungsverbund „#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen“ hat seit 2021 rund 500 NS-Deportationsfotos aus 60 Städten aus dem Gebiet des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 zusammentragen. Viele der abgebildeten verfolgten Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma oder „Euthanasie“-Opfer sind auf den Bildern zum letzten Mal zu sehen. Im Rahmen des Forschungsprojektes werden unter anderem die Hintergründe der Fotos recherchiert und wissenschaftlich kontextualisiert. Ein digitaler Bildatlas macht die historischen Fotos mit wissenschaftlichen Einordnungen öffentlich zugänglich. Der Verbund will mit #LastSeen Grundlagenforschung zum Nationalsozialismus leisten und die Ergebnisse frei zugänglich machen. Vermittelt werden soll auch die tiefe Verstrickung der deutschen Bevölkerung in die Ermordung von Millionen Menschen.

#LastSeen ist Empfänger des Landecker Academic Research Grant.

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