Gleichzeitig zeigen sie auch die strukturelle Gewalt der Täterinnen und Täter, die aktive Beteiligung der scheinbar unbeteiligten Nachbarn, sowie Selbstbehauptung der Verfolgten in einer ausweglosen Situation vor aller Augen. Deshalb sind die Fotos zentrale Quellen zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitiken, die den Moment des „Abtransports“ oftmals zur Vernichtung an konkrete öffentliche Orte rückbindet.
Das Projekt #LastSeen. Bilder der NS-Deportationen zeigt Grundlagenforschung in neuartiger Form: als digitalen Bildatlas. In diesem werden Fotos der Deportationen wissenschaftlich kontextualisiert und digital veröffentlicht. Auf der Serienebene finden sich Angaben zur Deportation und weiterführenden Quellen/Literatur, zur Überlieferung der Bilder, zu den Fotografen, wie auch eine genaue, kartografisch abgebildete Geolokalisation. Auf der Einzelbildebene werden die Bilder en détail erschlossen, Personen identifiziert und verschiedene Objekte so getaggt, sodass verschiedene Suchoptionen für die Forschung möglich sind. Wenn möglich, wird eine kurze Biografie der Abgebildeten veröffentlicht.
Eine erste Sammlung von Deportationsfotos haben Klaus Hesse und Phillip Springer vor nunmehr 20 Jahren in dem so passend betitelten Band „Vor aller Augen“ vorgelegt. Damals waren Fotos aus 27 Orten bekannt. Im Rahmen der systematischen Recherchen der ersten Projektphase ist es gelungen, dieses Konvolut mehr als zu verdoppeln.
In der zweiten Phase des Projekts (Juli 2023-Juni 2025), gefördert durch die Alfred Landecker Foundation, soll nun die Erschließung der Bildserien aus dem Reichsgebiet fertiggestellt werden. Zudem werden erstmals systematisch Fotos der Transporte im Rahmen der Krankenmorde (T4 und dezentrale Euthanasie) einbezogen. Inhaltlich wird sich das Projekt auch mit der ideologischen Bildmotivik der Fotos beschäftigen, wie sie sich auch in dem hier gewählten Beispiel des Zwangsgruppenfotos aus Stadtlohn zeigt. Es liegt nahe, dass das Foto nicht zufällig vor dem Hintergrund des Schaukastens der Wochenzeitung der SS angefertigt worden war: Damit wurde eine deutliche ideologische Botschaft ins Bild eingeschrieben.
#LastSeen ist an der Schnittstelle zwischen Forschung und interessierter Öffentlichkeit angelegt. Ein digitaler Bildatlas macht die historischen Fotos mit wissenschaftlichen Einordnungen öffentlich frei zugänglich. Ein digitales Spiel, das ebenfalls aus dem Projekt hervorgegangen ist, will Jugendliche und andere Interessierte zur Auseinandersetzung mit den Geschichten in und hinter den Fotos anregen. Ziel ist es, eine innovative, interventionistische Ausstellung zu den Deportationsfotos entwickeln.