“5780 war ein übles Jahr. Ich bin bereit, 5780 ins Wasser zu werfen. (Anmerkung: Die Jahreszahl bezieht sich auf den jüdischen Kalender).
Es gibt eine Zeremonie, die üblicherweise am Nachmittag des Neujahrstags vollzogen wird. Gläubige Jüdinnen und Juden gehen dann zu einem Gewässer, vorzugsweise einem mit Fischen darin, und sprechen dort Bußgebete, während sie sich ihrer Sünden entledigen.
Als Kind war dieser Brauch namens Taschlich (Hebräisch für: Du wirst werfen) ein großes Ereignis für mich. Nach dem Gottesdienst machte sich die ganze Gemeinde auf zu einem Fluß, um dort Brot ins Wasser zu werfen. Erst Jahre später dämmerte mir, dass wir damit etwas Bedenkliches taten – einerseits, weil es den Mägen von Enten nicht gut tut, wenn sie Brot fressen; und andererseits, weil wir damit auch gegen die jüdischen Gesetze (die Halacha) verstießen. Aber ich schweife vom eigentlichen Thema ab…
Mein Vater pflegte damals immer, einen ganzen Laib Brot ins Wasser zu werfen. Er tat es wohl, um sich als Rabbiner vor seiner Gemeinde als gewöhnlicher Mensch zu präsentieren. Offensichtlich hatte er sich vieler Sünden zu entledigen! Ich erinnere mich daran, wie ich als Teenager am Flussbett stand und versuchte, mich daran zu erinneren, was ich alles falsch gemacht und wem ich alles Unrecht getan hatte im vergangenen Jahr. In der Tradition des “Al Chet”-Gebets schlug ich mir dabei auf die Brust und warf dabei gedanklich alles ins Wasser, was ich loswerden und hinter mir lassen wollte. Rosch HaSchana, das jüdische Neujahr, war schon immer ein Tag der intensiven Selbstbefragung. Ein Moment der inneren Einkehr, der zehn Tage lang anhalten und mit dem Erklingen des Shofar-Horns an Jom Kippur (Anmerkung: dem höchsten jüdischen Feiertag und Festtag der Reuhe und Umkehr) enden würde.
Dieses Jahr aber, wenn ich mich nach innen kehre, möchte ich am liebsten nur weinen.
Ich möchte die Explosion hinter mir lassen, die ich hörte, als ich am letzten Jom Kippur in der Synagoge in Halle war und gerade aus der Thora gelesen wurde. Und ich möchte die Angst hinter mir lassen, die mich trieb, als ich danach in den hinteren Teil der Synagoge floh. Vergessen möchte ich auch, wie ich in diesem Moment versuchte, mein Schicksal anzunehmen und den nahenden Tod zu akzeptieren in diesen endlos erscheinenden Minuten an jenem 9. Oktober 2019.
Ins Wasser werfen möchte ich auch den Schmerz, den ich empfand, als wir versuchten, unsere Freunde zu finden und wieder bei unserer Tochter zu sein (Anmerkung: auf das Kind von Jeremey und seiner Frau passte während des Gottesdienstes eine Babysitterin außerhalb der Synagoge auf).
Ich wünsche mir, die Fische verzehrten die Scham darüber, von der Polizei schlecht behandelt und ins Rampenlicht gezerrt worden zu sein. Ich möchte mich reinwaschen von meiner Wut auf Journalisten, Richter und die deutsche Gesellschaft. Ich will einfach, das all dies verschwindet.
Als würde dies nicht schon genügen, sind wir zusätzlich heimgesucht von einer globalen Pandemie, die dafür sorgt, dass ich meine Familie in den USA seit fast einem Jahr nicht gesehen habe. Die Einschränkungen zur Eindämmung des Virus haben uns dazu gezwungen, unsere Arbeit neu zu definieren und etwas zu tun, das wir niemals tun wollten: Menschen abzuweisen, die Gemeinschaft suchen, weil es keinen Raum dafür gibt.
Ganz zu schweigen von dem Irren, der im Weißen Haus sitzt, und dem grassierenden Rassismus und der Polizeigewalt. Demonstranten von Milwaukee bis hin nach Minsk fürchten auf den Straßen um ihr Leben. Und ein Rabbiner wie ich muss sich auf seinen Streifzügen durch Berlin den spürbaren und zunehmenden Mikroaggressionen in der Öffentlichkeit stellen und in einem Prozess im Gericht von Magdeburg gegen den Täter von Halle aussagen.
Wir haben uns in die Vorbereitungen für die Neujahrsfeierlichkeiten gestürzt. Aber ich empfinde nicht die übliche Nervosität, die für freudige Erwartung und Routine steht (Haben wir auch genügend zu essen? Ausreichend Stühle? Genug Wein besorgt?). Stattdessen fühle ich eine große Leere und am Wasser stehend, weiß ich nicht, wie ich mich von dieser Leere befreien soll.
All das ist Wirklichkeit und ich bin schlechter als schlecht vorbereitet. Ich starre auf die Tüten voller Einkäufe: auf die Äpfel, den Honig, die Datteln, den Lauch, die Karotten und ich möchte dem allen eine Bedeutung geben, will es zu etwas Symbolischem machen – doch gleichzeitig ist es mir auch einfach nur danach, mich in einem Loch zu verkriechen und erst zum Erklingen des Schofars an Jom Kippur wieder hervorzukommen.
Unterdessen ist mir sehr wohl bewusst, dass ich nicht der Einzige bin, der leidet. Früher war es so, dass ich etwa ein bis zwei Mal im Monat einen Anruf von jemandem erhielt, dem es schlecht ging. Dieser Tage sind es eher fünf bis sechs Anrufe pro Woche. Die Menschen leiden – sei es wegen Jom Kippur, wegen des Prozesses in Magdeburg, wegen der Krankheit oder des Todes eines geliebten Menschen oder dem Ende einer Beziehung.
Vor einem Jahr noch erschien mir die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland ungetrübt hell und strahlend. Aber dieser Schleier ist zerrissen und viele von uns empfinden sich als „Außenstehende“, sie fühlen sich einsam oder benutzt, weil sie für die Interessen anderer vereinnahmt werden. Mein Schmerz wird nicht gelindert, er wird eher instrumentalisiert.
Vielleicht werde ich eine Kopie dieses Textes in den Berliner Landwehrkanal werfen – obwohl das bestimmt nicht gut für die Enten wäre, die dort schwimmen. Vielleicht werde ich auch nur abwesend den Riten folgen, mir auf die Brust schlagen und meinen Kopf senken, während wir die verkürzten Gebete sprechen, um den Corona-Beschränkungen zu entsprechen. Ich möchte den Klang des Schofars hören, doch meine Ohren sind taub aus Furcht vor dem, was der Tag danach bringen könnte.
Am Tag, als ich vor Gericht gegen den Nazi aussagte, der versuchte mir das Leben zu nehmen, sprach ich eine ganze Weile mit Ismet Tekin. Er ist der Besitzer des Kebab-Ladens in Halle, vor dem der Attentäter um sich schoss, nachdem es ihm nicht gelungen war, in die Synagoge einzudringen. Ein junger Mann namens Kevin S. starb im Kebab-Restaurant von Ismet Tekin.
Nach meiner Zeugenaussage begleitete mich Ismet nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Wir teilten uns eine Zigarette (tut mir leid, Mama, es war ein stressiger Tag!) und er erzählte mir, dass seine Frau gerade beim Arzt sei, um herauszufinden, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwarteten. Ich wiederum erzählte ihm, dass meine Frau im November ein Kind bekommen würde. Und für einen kurzen Moment füllten sich unsere Augen mit Freudentränen.
Am liebsten würde ich das Jahr 5780 ins Wasser werfen, aber ich kann es nicht. Denn ohne 5780 gäbe es kein 5781. Ich bete darum, dass ich zur selben Zeit in einem Jahr am Ufer eines Sees stehen werde – gemeinsam mit meiner Frau und unseren zwei Kindern sowie Ismet und seiner Frau mit dem Kind. Wenn es gut läuft, beschweren wir uns dann über zu wenig Schlaf, über misslungene Paar-Kommunikation und über typische Erziehungssorgen – normale Dinge eben, über die junge Eltern sich so beschweren. Ich möchte mich dann auf die Frage konzentrieren, in welchen Bereichen ich mich weiterentwickeln und ein besserer Mensch werden sollte. Ich möchte in der Lage sein, mich ganz intensiv mit mir selbst zu beschäftigen und der Frage, was mich antreibt.
Aber es gibt leider keinen Trick, wie man die Zeit überlisten und einfach in die Zukunft springen kann, ohne dass man die Gegenwart durchleben muss. 5780 war ein übles Jahr – aber es bleibt uns nichts, als es anzunehmen. Immerhin wurden in diesem Jahr zwei Babys gezeugt, die, inshallah, 5781 gesund zur Welt kommen werden. Manchmal pflanzen wir Samen in die Erde und die Aufgabe ist schwierig und wir werden dabei schmutzig. Doch wir tun es in der freudigen Erwartung, dass die Sonne scheinen und der Himmel blau strahlen wird, wenn die Knospen erblühen und es genügend Wasser gibt, um sie aufgehen zu lassen. So könnte ein Neuanfang aussehen.
Partner
Jeremy Borovitz
Direktor für Jüdisches Lernen bei Base Berlin
Jeremy Borovitz wuchs in New Jersey/ USa auf. Er ist der Sohn eines Reform-Rabbiners und halt einen Bachelor of Arts in Öffentlicher Verwaltung. Er ist zudem geweihter Rabbiner und arbeitet derzeit als Direktor für Jüdisches Lernen bei Base Berlin – einer Initiative, die er gemeinsam mit seiner Frau Rebecca Blady aufgebaut hat.